Gottesdienst Predigt 23.06.2019

Predigt zu Johannes 5, 39–47 – Pastor Henning Hinrichs

 

 

 

 

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

der Physiker Albert Einstein sagte einmal: „Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“ Und das liegt vermutlich daran, dass wir Menschen uns sehr früh auf etwas festgelegen, vielleicht so in den Jahren bis zum 18 Lebensjahr. Was man dann für richtig erachtet, nennt man dann gesunden Menschenverstand, obwohl es ja eigentlich nur meine persönlichen Wahrheiten sind oder die meiner Gruppe, zu der ich gehöre, und was dann nicht passt, wird eben passend gemacht oder abgelehnt. Auch dann, wenn selbst wissenschaftliche Erkenntnisse gegen meine Sichtweise sprechen.

Überlegen Sie mal, wo Sie wirklich mal von Ihrer lange gehegten Meinung abgewichen sind, sich auf anderes, ungewohntes eingelassen haben. Vielleicht brauchen wir Menschen das, die Sicherheit, die uns unsere festen Meinungen und Vorstellungen geben. Aber sie können eben auch, selbst wenn sie eine Zeitlang funktioniert haben, irgendwann nicht mehr passen. Das ist ja gerade das, was die Schüler der „Fridays for Future“-Demonstrationen den Politikern vorwerfen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, hinausschieben, sich der Vernunft verschließen und auf dem beharren, was sie schon immer gemacht haben.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer etwa lehnte ein Tempolimit auf Autobahnen mit den Worten ab, das sei „gegen jeden Menschenverstand“ gerichtet – obwohl seine eigene Expertenkommission deutliche Verbesserungen für Klima und Verkehrssicherheit bescheinigte. Stattdessen sagte er: „Wir wollen die Bürger von den Chancen der Mobilität der Zukunft begeistern und mitreißen. Forderungen, die Zorn, Verärgerung, Belastungen auslösen oder unseren Wohlstand gefährden, … lehne ich ab.“ Klimaschutz ja, Verkehrssicherheit ja, wenn nicht unser Wohlstand gefährdet wird und keine Belastungen entstehen. Das ist so, liebe Gemeinde, als wenn sie jemanden aus dem Sumpf retten, sich aber ihre feinen Lackschuhe nicht schmutzig machen wollen. Geht nicht.

Es geht manchmal eben nicht, auf der eigenen Meinung zu beharren, die Augen zu schließen und sich begründeten anderen Ansichten zu verschließen, die einen infrage stellen könnten. So wie die drei Affen: nichts sehen, nicht hören, nichts sagen

Im heutigen Predigttext klagt Jesus die damaligen jüdischen Geistlichen mit harten Worten an, sie würden in ihm ja nicht den von Gott Gesandten erkennen, obwohl doch die Bibel selbst auf ihn, Jesus, hinweise:

„Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist‘s, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben“?

Das ist harter Tobak, den jüdischen Geistlichen damals vorzuwerfen, sie würden ihre eigenen heiligen Schriften nicht verstehen, im zentralen Punkt falsch deuten. Stattdessen würden sie jedem dahergelaufenen Schein-Propheten eher glauben. Und dann sei in ihrem Herzen noch nicht einmal Liebe. Das Johannesevangelium ist voll von solchen Attacken. Der Konflikt gipfelt darin, dass er über sie sagt, sie hätten den Teufel zum Vater. Die Juden! Kinder des Teufels, die, wie unser Predigttext sagt, ihre eigenen Schriften nicht verstehen und deshalb von Mose, der hier stellvertretend für diese Schriften genannt wird, vor Gott verklagt werden!

Diese Spur der Anklage, manchmal sogar der Aufhebung ihrer Zugehörigkeit zu Gott und seinem Volk, zieht sich durch das ganze Christentum von Leuten, die selbst Juden waren: Jesus, Paulus, Petrus, sicher auch der Verfasser des Johannesevangeliums, über Christen, die Juden zu Feinden und Gottesmördern machten und schließlich zu Herrschern, die Juden millionenfach gemordet haben. Wie geht man damit um? Und warum ist ein solcher Text eigentlich heute Predigttext! Ein Text, der sich nicht recht fügen will zu dem, was ich gerne sage und höre, wenn ich über Christen und Juden spreche.

In der neuen, ab dem 01.01.2020 geltenden Verfassung unserer Landeskirche findet sich im Artikel 4 der Abschnitt: „Die Landeskirche ist durch Gottes Wort und Verheißung mit dem jüdischen Volk verbunden. Sie achtet seine bleibende Erwählung zum Volk und Zeugen Gottes und Gottes eigenen Weg mit seinem auserwählten Volk. Im Wissen um die Schuld der Kirche gegenüber Jüdinnen, Juden und Judentum sucht die Landeskirche nach Versöhnung. Sie fördert die Begegnung mit Jüdinnen, Juden und Judentum und tritt jeder Form von Judenfeindlichkeit entgegen.“ Das klingt deutlich eher nach unserer Zeit und ist eine bewusste Abkehr von den Worten des Jesus im Predigttext, Worten, die nach dem Holocaust unerträglich klingen.

Im Entwurf stand allerdings noch die Formulierung: „und lehnt deshalb Bemühungen ab, Juden zum Religionswechsel zu bewegen.“ Darauf konnte sich die Landessynode nicht einigen. Und damit ist sie dann doch noch bei diesem Jesus geblieben. Dieser Jesus sagt nämlich: Sie durchforschen die Schriften mit unermüdlichem Eifer und intensivem Studium. Und das tun sie natürlich bis zum heutigen Tag. In Synagogen und Toraschulen kann man sich ein eindrückliches Bild davon verschaffen. Und doch, so Jesus im Johannesevangelium, ist dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie das Entscheidende nicht erkennen: Diese Schriften legen von Jesus Zeugnis ab, aber zu ihm wollen sie nicht kommen. Damit aber haben sie sich zugleich von Gott getrennt. Sagt Jesus doch: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“, „Wer mich sieht, der sieht den Vater“, „Ich und der Vater sind eins.“

Größer kann man nicht von Jesus reden, als es der Verfasser des Johannesevangeliums tut, der seine Erzählung über Jesus ganz oben und ganz vorne, vor aller Zeit, beginnen lässt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war selbst Gott“. Dieser Jesus fordert bedingungslose Zustimmung, erwartet, dass man in ihm den exklusiven Offenbarer des Vaters im Himmel erkennt. Das war für die Juden damals, das ist für die Juden heute unglaubbar. Und der ein oder andere Christ hätte es vielleicht auch gern eine Nummer kleiner. Würde es nicht reichen, in Jesus so etwas wie einen extraklugen Lehrmeister zu haben, der auffordert, nett zueinander zu sein, Gutes zu tun, zu lieben, zu verzeihen u.s.w. und die Andersgläubigen zu respektieren?

Das Ärgernis des Johannesevangeliums liegt darum auch nicht nur darin, dass es harte Worte gegen die Juden formuliert. Die Provokation des Johannesevangeliums ist der unerhörte Ausschließlichkeitsanspruch, den Jesus hier überhaupt erhebt. Das ist eine harte Rede, sagen die Juden, wer kann das hören? Können wir es hören? Oder sind wir nicht genauso festgefahren in unseren Meinungen, wie weit ist unser persönlicher Jesus nicht doch identisch mit dem Zeitgeist? Gestern berichtete „Der Spiegel“ über den Kirchentag mit den Worten: „Wenn nicht einmal Kevin Kühnert streiten will“ – Kirchentag als Selbervergewisserung statt Ort von Diskussion und Auseinandersetzung. Wie soll da Neues entstehen, wenn man sich nicht mehr mit dem Schwierigen auseinandersetzt, sondern alles irgendwie hinnimmt?

Interessanter wäre doch stattdessen der Streit darüber, was unsere christlichen Wurzeln sind. Ob sie mehr sind als Folklore, die gerade so weit reicht, dass wir die Kirche als Verein zur Bewahrung schöner Gebäude und abendländischer Traditionen tolerieren, sie uns aber ansonsten bloß nicht behelligen soll? Verstehen wir noch, was das eigentlich heißt, sich auf Jesus als den Gesandten oder gar Sohn Gottes einzulassen? Berührt es uns, stört es uns, wie die Juden, die das nicht einfach so hinnehmen wollten?

Dem Text aus dem Johannesevangelium kommt man nicht auf die Spur, wenn man ihn einfach entschärft, indem man sagt: Naja, so hat man eben früher gedacht, und vermutlich ist das gar kein echtes Jesuswort, und ihm damit seine unangenehme Spitze nimmt. Man kommt ihm allerdings auch nicht dadurch auf die Spur, dass man ihn antijüdisch liest und sich als Christ beruhigt auf der sicheren Seite wähnt. Die harten Reden gegen die Juden sind und bleiben ein Ärgernis, auch eine Gefahr. Niemals dürfen sie missbraucht werden, um den Juden ihren Anspruch auf ihre heiligen Schriften zu bestreiten. Diese Texte können auch keine Grundlage für das Verhältnisses von Christen und Juden sein.

Und doch steht diese harte Rede im Evangelium. Sie steht dort als ein Zeugnis für die Umstrittenheit Jesu seit den Anfängen des christlichen Glaubens; als Ausdruck dafür, dass sich das Bekenntnis zu Jesus Christus immer schon gegenüber anderen Ansprüchen auf Wahrheit behaupten musste. Sie steht dort nicht zuletzt als Erweis der Tatsache, dass sich der christliche Glaube auf dieselben Zeugnisse beruft wie die Juden, auch wenn er sie anders liest. Gerade in dieser engen Bezogenheit verbindet uns mit dem Judentum letztlich viel mehr, als uns von ihm trennt. Und so steht auch im Johannesevangelium nicht zufällig der Satz, der die harten Reden Jesu in ein anderes Licht stellt: „Das Heil kommt von den Juden“ sagt Jesus zu der samaritanischen Frau am Brunnen und stellt seine eigene Sendung damit in die Tradition des jüdischen Glaubens und seiner Schriften.

Der Text aus dem Johannesevangelium führt uns so mitten hinein in das Zentrum des christlichen Glaubens. Er stellt uns den hohen Anspruch vor Augen, dass ewiges Leben nur im Glauben an Jesus zu gewinnen ist – nicht durch eine buddhistisch verstandene Wiedergeburt, nicht einfach durch ein volles Konto guter Taten, sondern allein aus Glauben an Jesus als den Christus. Er weist unmissverständlich darauf hin, dass der christliche Glaube seine eigene Sicht auf die Schriften Israels hat; er zeigt auf, dass uns mit dem Judentum der Glaube an den einen Gott, den Gott Israels und der Welt, verbindet und uns zugleich auch von ihm trennt.

Der Text provoziert. Eigentlich bin ich froh um solche Texte, weil man sie nicht einfach abnicken kann, sondern mit ihnen ringen muss wie Jakob mit Gott am Jabbok. Er kommt daher als die große Störung aller Selbstzufriedenheit, aber wenn man mit ihm ringt, geht man als anderer aus dem Kampf, reicher. Wenn man sich aber bequem einrichtet mit ihm, hat man schon verloren. Forscht ihr nur in den Schriften, sie selbst sind es, die euch verklagen.

Die Texte der Bibel sind Texte mit Anspruch, Gottes Wort, versteckt in so hässlichen Texten wie dem heute.

Und der Friede….

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