Gottesdienst Predigt 19.04.2019

Predigt zu Johannes 19, 16 – 30           Pastor Henning Hinrichs

 

 

 

 

Die Gnade unseres Herr Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Es war einmal ein Mann, der hatte im Schlaf ein giftiges Tier verschluckt, das in seinem Hals steckengeblieben war. Er erhob sich in einer Art Fieberwahn und begann zu husten und sich zu schütteln; er versuchte das Ungemach, das er nicht ganz begreifen konnte, loszuwerden. In diesem Augenblick ritt ein Mann zu Pferd vorbei, der mit einem Blick erfasste, was geschehen war. Sofort erhob er die Peitsche und begann den Mann grün und blau zu schlagen, indem er gnadenlos Hieb um Hieb auf ihn niederprasseln ließ.

Das halbwahnsinnige Opfer versuchte ihm zuzurufen, dass er aufhören solle, aber er brachte kein Wort heraus. Wie immer er auch rannte, sich krümmte und sich auf dem Boden wälzte — er konnte dem ununterbrochenen Hagel erbarmungsloser Schläge nicht entrinnen. Der Reiter sprach kein einziges Wort.

Schließlich rebellierte der Magen des Schmerzgepeinigten, und er spie das giftige Tier unter heftigem Brechreiz aus. Das Tier fiel zu Boden und glitt davon. Der Reiter gab seinem Pferd wortlos die Sporen und ritt von dannen. Erst dann bemerkte der andere, dass das, was ihm in seinem Elend als ungerechtfertigte Gewalttätigkeit erschien, in Wahrheit der einzige Weg gewesen war, dieses Tier loszuwerden, ehe sich dessen Gift in seinem Körper ausbreiten konnte.

Liebe Gemeinde,

es gibt Geschichten wie diese, die einem zeigen sollen, dass das Leid, dass man gerade erlebt, notwendig ist, dass es letztlich sogar zu meinem Guten, zu meinem Überleben hilft. Manchmal stimmt das ja sogar. Wenn jemand an Krebs erkrankt ist, dann geht der Weg über Operation, Chemotherapie und Bestrahlung teils sehr beschwerlich und bis aufs Äußerste belastend. Die Erkrankung ist tödlich, und schon ihre Behandlung ist hart und schmerzhaft. Aber sie kann helfen.

Aber diese Geschichten haben ihre Grenzen. Was soll man den deutschen Angehörigen, den Opfern des Busunglücks auf Madeira erzählen? Wie sollen sie das Leid, dieses erlebte Trauma oder den Tod in etwas Lebensrettendes umwandeln, und wodurch?

Vor Ort war eine deutsche Pastorin, die als Seelsorgerin bei den Opfern und Angehörigen war. Sie wählte bei einem Interview über ihren Dienst in den Stunden nach dem Unglück eine interessante Formulierung über das, was da in den schmerzhaften und doch notwendigen Gesprächen stattfindet. Sie sagte: „Wir reden nicht über das Leiden, wir reden aus dem Leiden heraus.“

Vermutlich meinte sie, dass sie nicht distanziert, theoretisch, wie in einem psychologischen Lehrbuch über Traumabewältigung sprachen, sondern selbst betroffen waren, den Schmerz selbst erlebt hatten, hier auf Madeira oder auch schon in anderen Situationen. Auch den Sätzen der Pastorin konnte ich anmerken, dass sie Leid und Schmerz kannte. Man redet dann anders, vorsichtiger, man lässt gelehrige Sätze und hört viel mehr zu, erlebt, wie gemeinsame Erfahrungsschichten Verständnis schafft, auch gemeinsam schweigen lässt.

„Wir reden nicht über das Leiden, wir reden aus dem Leiden heraus.“

Vielleicht meinte sie aber noch etwas anderes, hatte sie ihren Satz mit Bedacht doppeldeutig formuliert. „Wir reden aus dem Leiden heraus.“ Für mich hörte sich das an wie ein Verlassen dieses Ortes des bloßen Leidens in einen anderen Raum, in dem auch wieder anderes möglich ist nach und nach, nicht sofort. Aber möglich dadurch, dass alles angesprochen werden kann, dass alles gemeinsam, wenn auch in anderen Situationen, in anderer Weise erlebt, aber alles im Leid erlebt wurde, dass das Verständnis, nicht nur Theorie ist.

„Wir reden aus dem Leiden heraus.“ Darum geht es, darum geht es gerade an Karfreitag. Wie aus dem Tod des einen Gottessohnes am Kreuz die Erlösung aller, die an ihn glauben, erfolgt. Wie wir herauskommen aus dem Leid.

Auch das ist so ein Geheimnis, das man schlecht theoretisch behandeln kann. Es muss auch theoretisch durchdacht werden, Pastoren müssen die Deutungsversuche damaliger und heutiger Gedanken studieren, Bibelkreise dem nachforschen und Ansichten austauschen. Oder vielleicht gibt es beim Osterfeuer morgen ja auch ein Gespräch mit jemandem, der sich darüber aufregt, dass an Karfreitag keine Tanzveranstaltungen erlaubt sind, und dann redet man plötzlich über wirklich Wichtiges, über die Überwindung des Leids und Todes durch das Leidens und den Tod Christi.

Aber vermutlich lässt sich die tiefere Bedeutung dieses einen Todes mit dem Herzen erst verstehen, wenn man nicht nur über diesen Tod, sondern aus diesem Tod heraus reden kann. Die besten Theologen sind ja die, deren Theorie sich im Leben und Leiden bewährt hat, so wie der Glaube stärker wird, gerade wenn er durch Täler musste und herausgekommen ist, sich heraus geredet hat, wie bei dieser Pastorin auf Madeira.

Im Johannesevangelium wird schon im Sterben der Weg in das Leben aufgezeigt.

Bei manchen Christen und Christinnen gibt es die Tendenz, sich Karfreitag besonders tief in das Leiden Christi hineinzudenken und hineinzufühlen, sich dem Schmerz auszusetzen und dann umso mehr Ostern in verzückter Freude zu jubilieren. Kann man machen.

Das Johannesevangelium ist dabei nur keine gute Begleitlektüre. Weil dieser Jesus selbst im Tod voller Licht strahlt, als könnte selbst hier am Kreuz das Licht Gottes nicht eingedämmt werden. Wo Gott ist, da ist Licht, auch jetzt im Tod.

Jesu Worte „Es ist vollbracht“ erinnern mich deshalb auch nicht an das „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ aus den anderen drei Evangelien, sie erinnern mich an die Worte Gottes an den Schöpfungstagen: „Und Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht, und es war gut.“ Es ist vollbracht!

Wenn ich mir das Innenleben der Pastorin auf Madeira vorstelle, dann schwingt in ihr in den Seelsorgegesprächen, im Zuhören dieser schrecklichen Erfahrungen, diesem Bildersturm der Seelen, der Satz am Kreuz mit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Er hilft ihr, das Leid ernst zu nehmen, mitzuschwingen, es nicht gleich und zu früh mit schlauen Sätzen heilen zu wollen – aber vielleicht erträgt sie es nur weil da noch dieser andere Satz in ihrem Herzen ruht: „Es ist vollbracht!“

Irgendwann kann es wieder gut werden. Wir sind da noch nicht, aber der Weg ist offen.

„Wir reden aus dem Leiden heraus.“ Gott trägt mich im Leiden.

Und der Friede Gottes, der größer ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.