Predigt zu Jeremia 1, 4 – 10 – Pastor Henning Hinrichs
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
in meiner Schulzeit hätte ich ungeheuer gern Theater gespielt. Aber ich habe mich nicht getraut. Ich saß da im Publikum und träumte mich in die Rollen hinein, die ich auf der Schulbühne sah, überlegte, wie ich sie spielen würde, besser natürlich, wie das Träumer immer tun. Aber trotz dieser immensen schauspielerischen Potenz in der Dunkelheit des Zuschauens, habe ich nie den Schritt gewagt. Mit dem Licht nach der Vorstellung löste sich meine Größe augenblicklich in Luft auf.
Vielleicht kennen Sie solche Situationen. Meistens wäre es ganz einfach, an etwas teilzunehmen, das man toll findet. Man geht einfach hin, eine einfache Anfrage reicht meistens. Eine Gruppe, ein neuer Kurs, was auch immer. Es würde mir wohl guttun, das weiß man. Aber weil es neu, fremd, ungewohnt ist, meldet sich sofort die innere Stimme, die Zweifel hegt. Und wenn das doch nichts für dich ist? Da kommste ja nicht so einfach wieder raus, ohne dass es peinlich wird. Und wenn du es doch nicht kannst? Die anderen viel besser sind als du?
Der Zweifel in die eigenen Fähigkeiten ist ganz nah, an der eigenen Unruhe zu erspüren, näher als eine mögliche tolle Erfahrung, die noch nicht erlebt wurde. Und dann lässt man es eben.
Im Studium ergab sich dann doch eine Gelegenheit. Nein, ich war nicht so mutig oder bestimmt, dass ich eine Theatergruppe aufgesucht hätte. Ich wurde ausgesucht, oder besser: gefragt. Man brauchte für eine klitzekleine Nebenrolle noch jemanden und so wurde eben auch ich gefragt. Und da habe ich dann endlich ja gesagt.
Wann sagst du Ja? Je größer der Schritt, desto schwerer der Schritt. Wann sagst du Ja?
Im heutigen Predigttext soll Jeremia das Prophetenamt übernehmen. Er soll Israel Gottes Wort, ein oft genug unangenehmes Wort weitergeben. Und ich kann Jeremias Reaktion darauf so gut verstehen. Da heißt es:
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Klar, die Propheten und Prediger, das sind diese lebenserfahrenen charismatischen Typen, deren Stimme mit Donnerhall den Marktplatz erfüllt, nach deren eindringlichen Worten einem Mark und Bein erzittern. Sie sind, die Propheten und Prediger, am besten im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Alt genug, um Lebenserfahrung gesammelt zu haben, Rückgrat, damit sie von den Alten ernstgenommen werden, aber nicht zu alt und von gestern, damit die Jugend sie auch noch cool findet.
All das sind Pastoren nicht in den ersten Amtsjahren. Was sollen Sie bei einer schweren Beerdigung etwa eines Kindes sagen, das über allgemeine Wahrheiten wie „Gott liebt dich so wie du bist, Gott ist immer da“ hinausgeht, wenn Ihr eigener größer Verlust eine in die Brüche gegangene Beziehung nach drei Jahren ist? Es ist nicht einfach, sich mit 25 Jahren vor eine Gemeinde zu stellen und etwas zu sagen zu haben. Das entwickelt sich, das passiert auch, aber es braucht Zeit. Zeit, die man in der Regel nicht hat.
Schon gar nicht Jeremia. Mag Gott auch lange schon Jeremia im Auge haben, schon vor seiner Geburt, Jeremia war das nicht bewusst, für ihn kommt diese Berufung völlig überraschend, zu früh um etwas sagen zu können.
Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Ich bin zu jung, ich bin zu alt, ich bin zu schwach, zu krank, zu zurückhaltend, hab keine Zeit, kann das nicht, andere können es sicher besser. Es gibt immer genug Gründe etwas nicht zu machen.
Viel wichtiger wäre doch aber die Frage: Was hilft mir, etwas zu machen? Das wäre doch die viel wichtigere Frage, die einen auf die Spur bringt, die mich dazu bringt, etwas zu machen, was mir entspricht, zu mir passt, und im günstigsten Fall vielleicht auch glücklicher, zufriedener machen würde. Es muss ja nicht gleich eine Bestimmung sein, die man erfüllt, etwas Belebendes zu erleben wäre ja auch schon was.
Ich bin zu jung.
Der Herr sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.
Das klingt zunächst so, als wenn Gott den Einwand Jeremias einfach wegwischt, nicht ernst nimmt. Du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Heul nicht rum, erfülle deinen Auftrag. Ich bin Gott, ich gebiete.
Vielleicht ist es das auch. Das ja jemand ist, der mein Zögern und Zaudern nicht allzu ernst nimmt, so wie man sich bei manchem einen nicht zu harten, aber doch richtungsweisenden Tritt in den Allerwertersten wünscht.
Und der ist wohl auch mal notwendig. Gott nimmt behutsam, aber bestimmt Jeremias Einwände auf. Zu jung? Das lässt er nicht gelten. Denn wenn Gott ruft, gibt es kein zu alt oder zu jung. Nicht das ist entscheidend, was ich von mir denke, sondern was Gott in mir sieht. „Das passt nicht zu dir? Doch! Ich sah von Anfang an, dass das auf deiner Stirn steht: Prophet für die Völker. Ich sehe in dir viel mehr, als du von dir weißt. Ich sehe, was du kannst! Predigen sollst und wirst du, was ich dir sage.
Und dann wird es plötzlich verständnisvoll, geradezu zärtlich: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr. Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Wem würde nicht mulmig werden bei diesem Auftrag: zerstören, ausreißen, verderben? Vieles läuft verkehrt in Israel damals, das muss verschwinden, diese vielen Missstände, alles raus, mit Stiel und Stumpf, es ist Zeit für einen Neuanfang der Menschen mit Gott. Sie brauche ihn. Jeremia wird vor allem das Verhältnis Israels zu seinem Gott beklagen. Das wiegt sich in falschen Sicherheiten, läuft anderen Göttern hinterher, taktiert lieber politisch, als dass es auf Gottes Wort hört.
Wenn ein neuer Anfang geschehen soll, dann muss das verfahrene Alte erst einmal raus. Und dann soll er pflanzen und bauen. Das bleibt in all den Wirren und Schrecken der Zeit Jeremias der große Trost: Gott gibt sein Volk nicht verloren. Nein, das ist nicht das Ende. Gott wird einen neuen Anfang machen. Dort, wo Zerstörung herrscht, soll neu gepflanzt und gebaut werden.
Von keinem anderen Propheten hören wir, wie sehr er unter seinem Auftrag leidet. „Ach, wäre ich doch nie geboren worden!“, so ruft er einmal unter Qualen aus (Jer 20, 14-18). Er wird angefeindet. Sein kritisches Wort will niemand hören. Viele verspotten ihn oder erklären ihn zu einem Lügner, andere trachten ihm nach dem Leben. Er klagt über seine Einsamkeit.
Was ihm Kraft gibt sind diese Sätze vom Beginn: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr.
Wie ein Schutzanzug legen sich diese Worte um Jeremia; in allen Anfeindungen, selbst in allen Zweifeln weiß er sich von Gott gehalten und getragen. Von Jeremia wurde vieles wurde gefordert, doch ihm war auch viel gegeben und anvertraut. Bei der Berufung Jeremias weiß Gott ganz genau, was in Jeremia steckt, was er einbringen kann, er weiß es besser Jeremia selbst, der nur seine Jugend sieht. Jeremia wird nicht über die Grenzen seiner Begabung geführt. Er braucht nur das tun, was er kann. Es bleibt immer eine tragbare Last.
Erinnern Sie noch den Spruch gleich zu Beginn des Gottesdienstes? Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.
Was ist meine Begabung, welches Talent hat mir Gott gegeben? Und wo könnte ich den Schritt wagen, Initiative ergreifen? Es fängt wohl damit an, überhaupt erst einmal wachsam und aufmerksam sein für das, was Gott schon in mir sieht, vielleicht sogar, was er mit mir vorhat. Martin Luther hat ja das Wort Beruf erst gebildet im Bewusstsein: wo immer du auch bist, wo immer du arbeitest, dort sollst du Christus bezeugen. Gott sieht in dir viel mehr, als du von dir weißt, er sieht, wer du sein kannst.
Was könnte das sein? Niemand sollte von sich meinen, er sei zu jung, zu alt oder gar zu bedeutungslos, schon gar nicht für Gott. Und wenn du eine Idee hast, dann geh einen Schritt darauf zu. In der Gewissheit, und das ist wohl das Zweite: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir, spricht der Herr.
Die Aufgaben, die Gott schon in uns sieht, sind manchmal auch schwer. Manchmal wird man wirklich bis an die Grenze des Ertragbaren geführt, das ist so, so ist das Leben manchmal. Die Missstände dieses Lebens sind eben noch immer nicht aus der Welt geschafft. Es gibt sie noch.
Dietrich Bonhoeffer, einer, der ganz nah an dieser Grenze war, was ein Mensch tragen kann, schrieb an dieser Grenze: „Ich bin gewiss, dass Gott uns immer die Kraft gibt, die wir brauchen. Aber er gibt sie uns nie im Voraus, damit wir uns in allem auf Gott allein verlassen.“ Er schrieb das, weil er es erlebt hatte, weil er an dieser Grenze spürte, was ihm nun wirklich Kraft gab. Eine Kraft, die er selbst gar nicht für möglich gehalten hätte.
Welche Aufgaben auch immer auf dich warten: „Fürchte dich nicht vor dem, was auf dich zukommt. Ich bin bei dir.“ – und es wird dich nicht überfordern!
Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.